LESEPROBE

Der fröhliche Landmann

Lieselotte hat ein paar Lebensmittel eingekauft und ist nun auf dem vertrauten Heimweg. Die Tasche ist nicht schwer, und sie beeilt sich auch nicht. Zu Hause erwartet sie ja niemand. Doch plötzlich bleibt sie stehen. Aus einem geöffneten Fenster dringt Klavierspiel. Ein Kind versucht sich an Schumanns „Fröhlichem Landmann“. Lieselotte spielt in Gedanken mit und wartet auf die Stelle, an der die linke Hand über die rechte greift.

 

Warum laufen ihr denn, verflixt nochmal, auf einmal Tränen die Wange herunter? Sie will doch nicht mehr an ihren Sohn Thomas denken. Wie oft hatte sie mit ihm damals Klavierspielen geübt, und an das Schumann-Stück erinnert sie sich noch besonders deutlich. Ob wohl auch Jule schon den „Landmann“ spielt? Gut zwei Jahre hat Lieselotte ihre Enkeltochter nicht mehr gesehen. Damals hatte sie gerade ein halbes Jahr lang Klavierunterricht gehabt.

 

Es war doch in erster Linie Lieselottes Schuld, dass sie den Kontakt abgebrochen hatten. Sie konnte sich einfach nicht damit abfinden, dass nun die eigene Familie die wichtigste Rolle in Thomas Leben spielte. Sie hatte immer wieder etwas an seiner Frau auszusetzen gehabt, bis er ihr unmissverständlich sagte, dass die Mutter seine Wohnung unter diesen Umständen nicht mehr zu betreten brauche.

 

Und Lieselotte war gegangen. Seitdem herrscht „Funkstille“ zwischen ihnen. Sie versuchte, die Enttäuschung zu verdrängen und sich ihr eigenes Leben einzurichten. Doch heute merkt sie, dass sie immer noch leidet. Und immer leiden würde!

 

Sie kann nicht mehr sagen, warum sie zu Hause dann mechanisch Thomas Telefonnummer wählt. Wie erwartet, ist ihre neunjährige Enkelin am Telefon. „Jule, spielst du schon den Fröhlichen Landmann?“ fragt die Oma. „Na klar, willst du ihn hören?“ Und spielt ihr doch tatsächlich sofort das Klavierstück am Telefon vor. Da muss Lieselotte schon wieder weinen.

 

„Oma, warum besuchst du uns eigentlich nicht mehr?“ fragt Jule nach ihrem Vorspiel. Lieselotte schweigt. Dann tuschelt jemand am anderen Ende der Leitung. „Mama lässt fragen, ob du am Sonntag zum Kaffee kommen willst.“ –„Wenn du dann noch einmal den Landmann spielst, komme ich natürlich sofort. Und sag Mama von mir danke“, hört sich die Großmutter reden.

 

Was sind das plötzlich für längst vergessene Emotionen in ihr? Das muss das Glücksgefühl sein, das Dichter und Musiker als Katalysator für ihre Werke brauchten. Diese Augenblicke des Glücks, das wusste sie nun, werden noch länger anhalten, wenn sie ihren Anteil dazu beiträgt: Verstehen von ihrer Seite aus und Verzeihen von Seiten ihrer Schwiegertochter. Ein Schlussstrich ist ein Neuanfang. Ein kleines Musikstück, von Kinderhand gespielt, war ein Schlüssel zu ihrem Herzen und zum neuen Glück.

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